Treue 2.0

Treu und kinky sein, (wie) geht das?

Zu dieser Frage hat mich Marianne Kreissig von couplecare interviewt. Die Aufzeichnung dazu kannst du am  25.11.2021 im Rahmen des  online-Kongresses „Treue 2.0“ sehen. Dieser Kongress dauert vom 22. bis zum 27.11.2021 und es sprechen über 30 Expert*innen (siehe unten) aus unterschiedlichen Perspektiven zum Thema Treue (Programmübersicht).

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Als Vorbereitung zum Interview habe ich mich allgemein und persönlich mit dem Thema Treue befasst. Meine Gedanken dazu möchte ich in diesem Blogbeitrag mit dir teilen: 


„Treue hilft uns zu Vertrauen.

Vertrauen brauchen wir, damit wir uns für tiefreichende Beziehungen öffnen können.“

Treue 1.0 als „sexuelle Exklusivität der Paarbeziehung“?!
Im Zusammenhang mit Liebesbeziehungen wird Treue als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Sie ist eine kollektive Moralvorstellung die aber kaum explizit definiert wird. Auch unter Paaren nicht. Was unter Treue verstanden wird, lässt sich eher daraus ableiten, was unter Untreue verstanden wird.  Untreu ist, wer den Partner hintergeht, fremdknutscht, fremdvögelt... Treue 1.0 kann also als „sexuelle Exklusivität der monogamen Paarbeziehung“ verstanden werden. Emotionale Exklusivität inbegriffen. Das versteht sich von selbst.


Entschieden für oder gegen...

Treu kann ich meinem Lebensmittelhändler gegenüber sein und werde dafür mit Treuepunkten belohnt. Treu kann ich einem Verein, der Familie oder auch Freunden gegenüber sein. Bin ich loyal so kann ich mit meinem Verhalten zeigen, mit wem ich mich verbunden fühle. Ich bekenne Farbe und entscheide mich. Treue ist nicht ausschließlich eine Entscheidung für sondern auch gegen etwas. Das erlaubt trennscharfe Abgrenzung. Mögliche Folgen davon sind Orientierung und Sicherheit aber auch Polarisierung und Spannung. 

 


Sich selbst treu sein

Treue beginnt schon in der Beziehung zu mir selbst. Mir selbst, meinen eignen Bedürfnissen, Werten, Empfindungen treu zu sein. Mir selbst zu vertrauen, meine eigenen Grenzen zu respektieren. Ehrlich mit mir selbst zu sein! Ich kann zwar anderen Treu sein, ohne mir selbst treu zu sein. Selbstaufgabe führt jedoch nicht zu nachhaltig freudvollen Beziehungen.

 


Wie mono ist monogam?
Unser Bedürfnis Liebesbeziehungen einzugehen ist ungebrochen hoch. Doch die Erwartungen an solche Beziehungen hat sich über die letzten Generationen hinweg stark gewandelt (siehe auch Blog 
Liebe (s) Beziehung im Wandel). Die häufigste Beziehungsform hingegen ist konstant geblieben, die Monogamie. Doch wie mono ist monogam? In Deutschland erwarten zwar 97% der Männer und Frauen die eine Partnerschaft eingehen Treue. [1] Jedoch wird in der Hälfte aller monogamen Beziehungen fremdgegangen. Mehrfach und heimlich. Dabei sind die Männer kaum fleißiger als die Frauen. [2] Kommt die Wahrheit ans Tageslicht, ist eine Trennung oder Scheidung nicht selten die Folge. Dies müsste nicht unbedingt sein. Fremdgehen führt zwar meistens zu einem schmerzhaften Vertrauensverlust. Eine solche Krise birgt aber auch Entwicklungspotential für eine Paarbeziehung. 

 


Treue - Vertrauen – Verletzlichkeit - Intimität

Ich möchte dich sehen, verstehen und fühlen! Kann ich mich dir zeigen, mich öffnen, mich berühren lassen? Der Weg zu körperlicher und emotionaler Intimität ist ein Seelentanz um die zentrale Frage: „kann ich mich dir gegenüber öffnen, ohne dass du mich verletzt?“ Es ist ein dynamischer Prozess, der nicht nur eine Richtung kennt. 

 
Um uns vor Gefahren und Verletzungen zu schützen tragen wir alle einen gewissen Schutzschild. Je nach Situation ist das sehr sinnvoll. Einander fühlen geht jedoch schlecht durch eine Rüstung hindurch. Wir kommen also nicht darum herum, unsere Schutzrüstung abzulegen, wenn wir uns auf körperliche und emotionale Nähe einlassen möchten.
Die einen schälen sich mit großem Vertrauensvorschuss in einem Satz aus der schützenden Rüstung heraus. Andere brauchen Zeit für Vertrauensaufbau, legen zwei Teile ab, und setzen dann wieder einen Teil auf.

Wir müssen darauf vertrauen können, dass wir Sorge zueinander tragen und einander nicht absichtlich oder aus Nachlässigkeit verletzen. Trotzdem ist es menschlich, dass wir Fehler machen und dabei unsere Herzensmenschen verletzen. Das ist besonders schmerzlich, denn wo wir lieben sind wir durchlässig und verletzlich. 

Finden Verletzungen statt, sollten wir darauf vertrauen können, dass wir uns einander zuwenden und uns die Zeit nehmen, die Wunden zu versorgen und heilen zu lassen. Das kostet Kraft und Überwindung. Diese Mühe lohnt sich denn hier liegen sowohl für den Einzelnen sowie für die Beziehung größte Wachstumschancen. Denn wenn Liebende sich verbünden und mit Konflikten einen konstruktiven Umgang finden, kann ein Vertrauen Wachsen, welches tiefreichende Beziehungen gedeihen lässt“.

 


 

„Vertrauen brauchen wir, damit tiefreichende Beziehungen gedeihen können.“

Vertrauensvoll sexuell ohne (exklusive) Liebe 

Es ist kein Geheimnis, dass Sexualität auch ohne exklusive partnerschaftliche Liebe geht. Wovon würden denn sonst z.B. Sexarbeiter*innen, die Pornoindustrie, Swingerclubs, Casual-Dating-Plattformen etc. leben? Eine verbindliche, tiefgreifende, und vertrauensvolle Liebesbeziehung eingehen und doch offen sein für  vertrauensvolle sexuelle Begegnungen außerhalb.  So eine Art von Bonussexualität habe ich nicht von Anfang an unter einen Hut gebracht mit Treue. Klar, bei Treue 1.0 ist sowas schlicht nicht vorgesehen, außer im Versteckten. Damit habe ich und meine Expartnerinnen definitiv keine guten Erfahrungen gemacht. (Siehe auch meine Treuebiografie). Das es auch anders geht erlebe ich seit rund 7 Jahren. Die Zeit ist reif für ein Versionsupdate der Treue!


 
Treue 2.0
Seit gut 7 Jahren lebe ich in einer offenen Beziehung mit polyamorem Anteil. Letzteres sorgt immer wieder für Fragezeichen also erkläre ich das kurz. Ich bin definitiv dazu in der Lage mehr als einen Menschen zu lieben. Meine endlichen Ressourcen, allen voran „Zeit“, halten mich jedoch davon ab weitere Liebesbeziehungen einzugehen, die „gleichwertig“ sind wie die Primärbeziehung zu meiner Partnerin. Ich habe mich also für eine verbindliche und exklusive Liebesbeziehung mit nicht-exklusiver Sexualität entschieden. Das ich mir keine vollwertigen weiteren Beziehungen vorstellen kann, hängt also unter anderem mit der hohen Intensität zusammen mit welcher ich die Primärbeziehung lebe. 
Das ist zumindest der aktuelle Stand. Auch wenn wir damit als Paar sehr gute Erfahrungen gemacht haben, ist dieser nicht in Stein gemeißelt.

Da ich in sexuellen Begegnungen außerhalb der Primärbeziehungen nicht nur mit Körper sondern auch mit Herz, Geist und Seele präsent bin, entstehen dabei durchaus innige und langfristige Verbindungen. Das ist der polyamore Anteil, für welchen ich offen bin. Damit das auch nachhaltig Freude macht, haben sich für mich einige Punkte als sehr hilfreich erwiesen. Sie bilden für mich das Rückgrat für Treue 2.0:

 

  • Die Primärbeziehung hat Vorrang
  • Das Vertrauen und wohlwollen gegenüber dem Partner ist intakt
  • In Konflikten oder schwierigen Zeiten bleibt Primärbeziehung verbindlich
  • Der Grad der Beziehungsöffnung ist dynamisch und situativ angepasst
  • Bei Konflikten und Vertrauensverlusten gibt es genügend Ressourcen (Zeit, Motivation, Energie...) für klärende Gespräche und den Wiederaufbau von Vertrauen (Entwicklungschance)
  • Die Kommunikation ist offen und transparent
  • Jeder ist sich selbst und dem anderen gegenüber ehrlich
  • Jeder geht für seinen Anteil in Verantwortung
  •  Die Andersartigkeit (der Bedürfnisse) des Partners wird respektiert oder sogar als Entwicklungschance betrachtet (Differenzierung)
  • Die Erfüllung von Bedürfnissen wird einvernehmlich verhandelt
  • Es gibt möglichst klare Absprachen bezüglich Grenzen (Soft- und Hardlimits)
  • Einvernehmlich getroffene Vereinbarungen werden eingehalten 

 

Schon klar, diese Liste von Verpflichtungen haben den Charme eines Gesetzbuchauszuges. Es fehlen nur die Paragraphen. Diese Verpflichtungen, Grenzen und Absprachen ermöglichen mir jedoch mehr als genügend Freiheiten, ohne dabei das zu gefährden, was mir lieb und teuer ist!

Die obigen Punkte sind ein persönlicher Extrakt aus 12 Jahren nicht-gelungener und aus 7 Jahren gelingender Beziehung. Wenn du dich von dieser Liste inspirieren lassen magst: Sehr gerne. Nur bitte nicht vergessen: An deine/eure individuellen Bedürfnisse bzw. dein/euer Beziehungsmodell anzupassen. Zudem sollten die einzelnen Punkte ausgearbeitet/ausgehandelt werden. Im Allgemeinen haben sich jedoch die meisten dieser Punkte in meiner 
Beratungspraxis bewährt. 

 

Viele der obigen Punkte, allen voran den Ersten, mache ich in Begegnungen transparent, bevor sich das Gegenüber sinnlich-sexuell auf mich einlässt. Neben der Klärung von Turnoffs/Turnons und Safersexpraktiken finde ich es auch wichtig die Beziehungserwartung zu klären.  Dazu gibt es einen hervorragenden englischsprachigen TEDx Talk von Dr. Evelin Decker: Seeing the STARS (Bei Gelegenheit werde ich dieses Konzept auf Deutsch übersetzen).



Treue und Kinky Sexualität

Mit dem Thema der nicht-Monogamie sind wir schon mitten in einem der Themen von Kink. Kink ist nämlich überall da, wo sich Sexualität außerhalb der gängigen Moralvorstellungen bewegt. Dazu gehören unter anderem:

 

  • BDSM
  • Fetisch
  • Alternative Beziehungsformen

 

Kinky Sexualität ist eine großes Thema und kommt demnächst in einem eignen Blogartikel. Hinsichtlich der Treue möchte ich aber schon mal vorwegschicken, dass BDSM und Fetisch auch in durch und durch monogamen Beziehungen ausgelebt wird.

 

Menschen die sich als kinky verorten müssen sich oft intensiv mit ihrem Anderssein auseinandersetzen. Das erfordert viel Selbstreflexion aber auch Kommunikation mit Partner*innen. Viele entdecken dabei wie unglaublich bunt und vielfältig Sexualität sein kann.

 

Kinky Räume können Menschen dabei unterstützen, sich als selbst in verschiedenen Aspekten ihrer Sexualität zu entdecken. Viele entdecken dabei, dass monogame Sexualität nicht unbedingt alle Bedürfnisse abdeckt und dass vertrauensvolle Sexualität nicht zwangsläufig an Liebesbeziehungen geknüpft sein muss. Das mag erklären, dass unter Kinkstern die Zahl der bekennenden nicht-Monogamist*innen höher liegt als unter Vanillas.


Kein gutes Haar der Monogamie gelassen?!
Man könnte den Eindruck bekommen, dass ich nicht viel von der Monogamie halte. Darum möchte ich an dieser Stelle allen Menschen meinen vollen Respekt aussprechen, die in einer monogamen Beziehung leben wollen. Wenn du dir nichts anderes als eine monogame Beziehung vorstellen kannst und/oder eine solche lebst und dich darin pudelwohl fühlst, dann ist das doch klasse! Wir brauchen keinen Wettbewerb der Beziehungsformen! Es ist ein großes Privileg unserer Zeit (und auch wo wir leben), dass wir die Beziehungsform in der wir leben wollen selbst wählen dürfen, ohne dass wir dafür verfolgt, eingesperrt oder gar getötet werden. Es lebe die Vielfalt!


Treu und kinky sein - geht doch!
Treu und kinky sein lässt sich auch für nicht-monogame Menschen vereinbaren. Dies gelingt, wenn wir  "sexuelle Treue/Exklusivität" mit "Vertrauen in der Beziehung" gleich setzen. Damit dieses Vertrauen wachsen kann müssen wir in unseren Beziehungen klären, welche Freiheiten wir einander unter welchen Bedingungen zugestehen wollen/können (siehe Abschnitt Treue 2.0).
Lasst uns also genau die Art von Treue und Beziehung definieren, die uns und unseren Beziehungsmenschen nachhaltig Freude am Lieben macht. In diesem Sinne wünsche ich dir viel Freude am Lieben!
 

 

Quellen

[1] Studie: Offene Partnerschaft / offene Beziehung – Häufigkeit und Zufriedenheit der Partner (9.8.2013).

 

 

[2] Studie im Projekt „Theratalk“ der Göttinger Georg-August-Universität unter dem Psychologen Ragnar Beer  2008.


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